RainerSturm  / pixelio.de

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Vorsicht bei der Abfahrt

Erschienen am 20.01.2013

Die Welt am Sonntag

Rot-Grün will mit öffentlichen Verkehrsmitteln gegen die Staus auf den Straßen von NRW ankämpfen. Das könnte teuer werden

Ob sie mit Bussen oder Bahnen schneller zur Arbeit gekommen wären? Hunderttausende Autofahrer dürften sich diese Frage Anfang der Woche gestellt haben, als sie auf Autobahnen und im Innenstadtverkehr feststeckten, zentimeterweise dahintuckerten und den Radiomeldungen von Staus ab zehn Kilometer Länge lauschten.

Dem ÖPNV bot das wetterbedingte Stauchaos an Rhein und Ruhr somit eine Chance, für sich zu werben. Allein: Sie wurde vertan. Denn auch bei Bussen, Bahnen und Regionalzügen kam es aufgrund von Schnee und Eis zu teils massiven Verspätungen und Ausfällen.

Das Timing war also ungünstig für den jüngsten Pro-ÖPNV-Vorstoß des Verkehrsministeriums. Dessen Kommission für die Zukunft öffentlicher Verkehrsmittel präsentierte nun eine Art Masterplan, um das Fahren mit Bus, Bahn und Regionalzug so attraktiv zu gestalten, dass Autofahrer vermehrt auf die Öffentlichen umsteigen.

Ambitioniert ist dieses Ziel allemal. Bislang jedenfalls macht der private Auto- und Motorradverkehr 80 Prozent aller Fahrten aus. Die Bürger ziehen das Auto Bussen und Bahnen eindeutig vor. Ist es da überhaupt möglich, den ÖPNV zu einer überzeugenden Alternative aufzupeppen? Nötig wäre es. Nähmen Bus und Bahn ein Stück des Autoverkehrs auf, würde dies Staus abbauen und Autofahrer erfreuen, aber auch den auf freie Straßen angewiesenen Standort NRW stützen. Immerhin ereignen sich in NRW 30 Prozent aller bundesweiten Staus (mit steigender Tendenz). Eine Wende hin zum ÖPNV würde obendrein den Ausstoß klima- und gesundheitsschädigender Abgase reduzieren, so bestätigen Regierung und Opposition übereinstimmend.

Welche Schritte erforderlich wären, um dieses Ziel zu erreichen, sprachen die hochkarätigen ÖPNV-Experten nun in schonungsloser Offenheit aus. So müsse den Nutzern endlich „ein verlässliches Tür-zu-Tür-Angebot“ unterbreitet werden. Konkret: Verspätungen und Ausfälle müssten verhindert werden. Umsteiger sollten künftig von einem ins nächste Fahrzeug springen können – ohne lange Fußmärsche einzulegen. Und überhaupt sei unverzichtbar, dass jeder beliebige Punkt im Land durch die Öffentlichen erreichbar werde.

Wie viele Tausend Haltestellen im Land dafür umgebaut werden müssten, berechnete die Kommission leider nicht – genauso wenig wie die Kosten für einen Netzausbau, der wirklich jeden Winkel im Land erreichbar machte. Zusätzlich erschwert wird dieses Ziel durch die demografische Entwicklung: Die Zahl zahlender Nutzer wird gerade in ländlichen Regionen sinken. Soll das Beförderungsnetz auch nur so attraktiv (oder unattraktiv) wie bisher bleiben, wird es für die Verkehrsverbünde von Jahr zu Jahr teurer. Nicht nur FDP-Verkehrsexperte Christof Rasche erklärt „den Traum vom 100-prozentig erschlossenen ÖPNV-Land NRW“ daher für „sympathisch, leider aber unfinanzierbar“.

Dagegen beteuert sein grüner Kollege Rolf Beu, es sollten „nicht überall neue Schienen gelegt werden“. Es gehe darum, „eine Mobilitätskette mit den jeweils passenden Verkehrsmitteln“ anzubieten. Will sagen: Auch private Busunternehmen und Fahrgemeinschaften sollen dabei helfen. Und das sei keineswegs mit Kosten fürs Land verbunden. Unbestritten teuer wäre dagegen die Umsetzung eines weiteren Kommissionsvorschlags: Die Preislisten für alle Strecken müssten „einfach und verständlich“ werden, zudem sei es nötig, Kartenautomaten und Websites landesweit einheitlich und „kundenfreundlicher“ zu gestalten. Dann allerdings wäre es unvermeidlich, Tausende Kartenautomaten im Land zu überholen, wie auch der Grüne Verkehrsexperte Beu einräumt. Doch zu den Kosten dieses Umbaus schwieg die Kommission auch hier.

Daneben betonen die Experten, nur durch ein landesweit einheitliches Ticket, durch eine vollständige Barrierefreiheit sowie „lücken- und fehlerlose Fahrgastinformation“ könne der ÖPNV die nötige Anziehungskraft entwickeln. Hier bestehe unverkennbar „Nachholbedarf“. Offen ließen die Fachleute aber auch hier, was es kosten würde, auf den Zehntausenden von Haltestellen im Land ausnahmslos Sprechanlagen oder elektronische Infotafeln zu installieren. Gleiches gilt für das Ziel der Barrierefreiheit, das nicht nur behindertenfreundliche Bahnsteige verlange, sondern auch die „Sicherheit, mit dem öffentlichen Verkehr das gewünschte Ziel sicher, irrtumsfrei, ohne Angst und Hindernisse zu erreichen“. Auch bei der Opposition bestreitet niemand, dass ein derartiger ÖPNV deutlich reizvoller wäre. Nur blieb an dieser Stelle ebenfalls unbeantwortet, mit wie viel Euro rollstuhlfreundliche Bahnsteige und Haltestellen, zusätzliche Wegweiser, Beleuchtung, Straßenplanung und Wachpersonal zu Buche schlagen würden.

Natürlich wissen die Kommissionsmitglieder, dass die von ihnen erhoffte Strahlkraft des ÖPNV mit der Bezahlbarkeit ihrer Pläne steht und fällt. Genau für diese Kostenfrage gibt es aber keine befriedigende Antwort – selbst wenn man mit dem grünen ÖPNV-Experten Beu davon ausgeht, dass sich die wesentlichen Forderungen der Kommission mit knapp 400 Millionen Euro zusätzlich umsetzen ließen. Woher aber soll dieses Geld kommen?

Viele Fachleute erinnern seit Jahren daran, auf Landesebene ließe sich wohl ein zweistelliger Millionenbetrag einsparen, wenn das undurchschaubare Dickicht aus zahllosen Verkehrsverbünden, Unterverbünden und Kleinstverbünden gerodet und durch eine landesweite ÖPNV-Gesellschaft ersetzt würde. Die könnte „Bürokratiekosten einsparen und weit  essere Konditionen etwa bei Zulieferern aushandeln“, meint auch der FDP-Fachmann Rasche. Da die Aufsichtsräte in den Verbünden aber zu über 90 Prozent mit Sozial- und Christdemokraten besetzt sind, hat sich für diesen Plan nie eine Mehrheit gefunden.

Die Kommission empfiehlt denn auch, noch eine andere Geldquelle anzuvisieren: Die vom Bund an  die Länder für den ÖPNV verteilte Summe (rund eine Milliarde Euro für NRW) sei ungerecht aufgeteilt, NRW bekomme zu wenig davon. Gemessen an Einwohnerzahl und Verkehrsaufkommen müsste NRW fast 400 Millionen Euro mehr erhalten pro Jahr. Dem können grundsätzlich alle Landtagsfraktionen zustimmen – versehen mit zwei großen Fragezeichen. Zum einen ist höchst fraglich, ob die knapp 400 Millionen Euro überhaupt in höhere ÖPNV-Attraktivität gesteckt werden könnten. In den Verbünden vor allem des Ruhrgebiets ist immer wieder zu hören, allein die Instandhaltung der bestehenden teuren Bahnnetze verlange viele Hundert Millionen Euro zusätzlich. Unter der Hand stimmt dem auch mancher Landespolitiker zu. Das aber heißt, für einen anziehenden ÖPNV wären eher 800 als 400 Millionen Euro nötig.

Zum zweiten ist höchst unwahrscheinlich, dass der Bund anderen Ländern diese Summe nehmen wird, um sie NRW zuzuschustern. Die Bundesverkehrspolitiker von Union, FDP, SPD und Grünen signalisieren immer wieder, sie seien nicht gewillt, sich mit den anderen Ländern anzulegen, um NRW zu helfen. Längst verfolgen die NRW-Verkehrspolitiker jeder Couleur denn auch eine zweite Strategie: Sie wollen den Bund bewegen, notfalls an alle Bundesländer mehr Geld fließen zu lassen. Umstritten ist unter den Parteien nur, ob der Bund dazu seine Einnahmen erhöhen solle (etwa über Mauterhebung) oder ob aus dem Bundeshaushalt schlicht mehr für den verkehr in den Ländern abgezweigt werden müsse. Bemerkenswert: Wenn es um Verkehr geht, sind sich die Landtagsfraktionen offenkundig einig, dass NRW „strukturell unterfinanziert“ ist. Bislang galt diese Feststellung den Oppositionsparteien als rot-grüner Vorwand, sich ums Sparen zu drücken.

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